Schon im Laufe des Tages gestern kommt so etwas wie Messefeeling auf. Auch wenn man auf dem Schreibtischstuhl sitzt und nicht auf Stühlen aus Stahlrohr mit dem Laptop auf dem Schoß. Dabei begann die Eröffnungsfeier zur Frankfurter Buchmesse erst um 18:00 Uhr. Wie geht Messe ohne Messegelände? Dieser Frage wollen wir in den nächsten Tagen nachgehen. Und schmeißen uns ins virtuelle Messegetümmel: Was wird passieren? Was gibt es zu berichten? Was macht das mit einem?
Auf der Homepage der Buchmesse tümmeln sich vor allem die Angebote der Veranstaltungen. Schon in den Tagen zuvor versucht man, sich da zurecht zu finden. Was ist live? Was ist virtuell? Was ist live und wird übertragen? Was trägt man sich wie in den Kalender? Wer sich in den Tagen zuvor durchgeklickt hat, kann sich auch in den Kreis klicken, findet sich verwundert wieder am Ausgangspunkt.
Man verliert sich nicht nur in Untermenüpunkten. Hinzu kommen jeden Tag neue Pressemitteilungen mit kurzfristigen Ankündigungen: Edward Snowden werde zu sehen sein, heißt es plötzlich. Der groß angekündigte Barnes & Noble-Chef James Daunt tritt dafür nur 25 Minuten auf.
Natürlich passieren am Tag der Messeeröffnungen auch noch alle Dinge, auf die man ein Jahr gewartet hat: Leute rufen an, die man schon gern ein halbes Jahr vorher gesprochen hätte. Pressemitteilungen die in der Vorwoche fällig gewesen wären, kommen rein. Am Tag der Eröffnung muss auch Thalia seine Bilanzpressekonferenz abhalten.
Und gleich da passieren dann die technischen Probleme: Die Soundeinstellungen sind alle korrekt, trotzdem kommt kein Ton an. Die Hektik steigt, man will ja von den Worten des Michael Busch' und Hartmut Falters keins verpassen.
Eröffnungspressekonferenz: den Umständen etwas Positives abgewinnen
Kaum war diese dann durch, schloss sich die Eröffnungspressekonferenz an. Man ahnt, dass es spätestens jetzt eng im Zeitplan wird. Messedirektor Jürgen Boos spricht auf Englisch und sieht blaß aus. Das passt zu seinen Worten: „Ich bin sehr enttäuscht, dass die Messe nicht wie gewohnt stattfinden konnte“, sagt er. 4200 digitale Aussteller und über 2.000 Veranstaltungen zählt er trotzdem zusammen.
Für ihn sei die Buchmesse eine Lernherausforderung, und er ist sichtlich bemüht, den Umständen etwas Positives abzugewinnen. Nun könnten sich auch diejenigen beteiligen, die nicht hätten kommen können und vor allem nicht dürfen. Weil zum Beispiel in ihrem Land keine Meinungsfreiheit herrscht. Später im Gespräch röten sich Boos Wangen, er ist im Element.
Auf der Rückwand steht das Motto der Eröffnung: „Hope Is Confidence“ und „Signals of Hope“. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier findet die Situation auch eigenartig in den leeren Hallen vor so ein paar weit verstreuten Pressevertretern zu stehen, bevor er auf das Motto eingeht und meint, Botschaft der Hoffnung sei, dass es ein Medium gibt, mit dem man sich auf fremde Welten einlassen und das eine Nähe zu fremden Kulturen und Menschen erzeugen kann. Nämlich das Buch.
Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs zählt die Erfolge der Branche auf. „Nur“ noch 4,3 Prozent Rückstand zum Vorjahr im Buchhandel, 11 Mio. Menschen hätten erstmals erfahren, dass man in der Buchhandlung anrufen und Bücher im Online-Shop des Ladens vor Ort bestellen kann. Und macht dann ein Versprechen, von dem sie selbst vermutlich nicht weiß, ob es sich halten lässt. Nächstes Jahr würde es wieder eine richtige Messe gegeben. Man merkt ihr an, dass das vor allem ihr Wunsch ist und sie alle anderen vermisst.
Zum Schluss wird sie noch politisch: Die Bundesregierung müsse endlich per Gesetz die Verlagsbeteiligung an den VG-Wort-Ausschüttungen beschließen, die seit vier Jahren überfällig sind und das Urheberrecht müsse gestärkt werden. Und schließlich prangert sie die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Belarus und China an.
Während der Intendant des Hessischen Rundfunks die Bühne betritt, wird klar, dass man bereits eine erste Veranstaltung verpasst hat, die auf dem Zettel steht. Gern hätte man Steffen Meier, dem Herausgeber des Digital Publishing Reports, und seinen Gästen gelauscht, welche Erfahrungen ein halbes Jahr Digitalevents gebracht haben. Verpasste Veranstaltungen gehören zum Messefeeling, das spätestens jetzt hochkriecht. Zumal die Texte für den Dienst auch noch nicht ganz fertig sind.
Networking in „The Hof“: Plötzlich gucken einen 82 Leute an
Als der Versand dann doch vollbracht ist, ruft einer an, der seine Pressemitteilung nicht mehr fertig bekommen hat und erklärt einem noch hektisch, was man zur Messe alles noch auf die Beine gestellt hat. Nicht wenige hat die Absage der Präsenzausstellung ins Schlingern gebracht. Und bald drauf ist es schon 18 Uhr und The Hof beginnt.
Das Format hat sich die Buchmesse ausgedacht, um virtuell das Netzwerken im Hotel Frankfurter Hof nachzubilden, wo das Bier vor zwei Jahren noch 6 Euro gekostet hat. Ich hole mein Lieblingsbier für 1,20 Euro aus dem Keller und setze mich vor dem Bildschirm.
Und siehe da, 82 Menschen aller Hautfarben erscheinen auf der Mattscheibe, gucken einen an und warten, dass etwas passiert. Man sieht Küchen, Wohnzimmer, aber meistens Arbeitszimmer im Hintergrund. Bier hat keine bzw. keiner, allenfalls eine Teetasse sieht man. Felix Zeltner, Journalist und Gründer der New Yorker Firma Work Awesome, begrüßt schließlich.
Er hat ein Duo mitgebracht, das mit Gitarre und Gesang zarte Töne spielt. Die Yoga-Lehrerin, die Zeltner eingeladen hatte, hat sich nicht zugeschaltet. Dafür macht er ein paar Entspannungsübungen: Augen schließen, mit der Musik atmen, sich strecken.
Zeltner fordert auf, digitale Visitenkarten im Chat zu hinterlassen. Die meisten sind Verlagsleute und davon gefühlt die Hälfte hat etwas mit Rechten und Lizenzen zu tun. Das sonst unvermeidliche fröhliche Grüppchen österreichischer Standesvertreter fehlt ebenso wie die Zigarre rauchende Konstante des Frankfurter Hofs, Holger Ehling. Dafür sind mindestens 50 Prozent junge Leute da. Dann fragt Zeltner, wie es in der Corona-Zeit denn so gegangen sei.
Die Kommentare füllen sich: eine hätte mit dem Quilten begonnen, einer lernt jetzt tschechisch, eine hätte endlich ihren Thriller fertig geschrieben und eine weitere schreibt „homeschool teacher…arrrgh“. Zeltner interviewt danach eine französische Verlegerin.
Dann poppt ein Fenster auf und man wird unvermittelt in eine Kleingruppe eingeladen. Nach dem Bestätigungsklick blicken einen nur noch drei Gesichter an, schließlich werden es fünf. Was soll man sagen? Kann man hier schnell wieder abhauen? Nein, das geht auch irgendwie nicht. Also sagt man schüchtern „Hi everybody“ und winkt in die Kamera. Alle lächeln erwartungsfroh.
Virtuell kann man auf zwei Veranstaltungen gleichzeitig sein
Währenddessen läuft auf dem zweiten Bildschirm die Eröffnungsveranstaltung der Buchmesse. Digital kann man jetzt beides gleichzeitig verfolgen – mit der Bierflasche in der Hand. Dafür bekommt man von beiden nicht essentiell etwas mit.
Mit Hilfe der Kamera sieht man, was man sonst nicht gesehen hätte: eine Kulturstaatssekretärin Monika Grütters mit hoch rotem Kopf hinter einer blauen Maske. Sie soll gerade die Plakette Förderin des Buches vom Börsenverein überreicht bekommen. Ihr Kopf ist leicht schräg und während Schmidt-Friderichs spricht, fragt man sich, ob da etwas glänzt in Grütters Augen?
Dabei hat man verpasst, wer sich im Fünfer-Raum des Hofs gerade alles vorgestellt hat. Eine Verlegerin aus Mexiko, sie sucht nach Lizenzen portugiesischer Autorinnen und Autoren, eine Verlagsmitarbeiterin aus den USA, ein junger Verleger aus dem Irak ist dabei und dann stellt man sich selbst schnell vor.
Schließlich poppt wieder ein Fenster auf, das Gespräch ende in 89 Sekunden, 88, 87, 86, 85, … läuft der Countdown und mitten in den letzten Sätzen bricht das Gespräch ab und man befindet sich wieder in der großen Runde.
Eröffnungsfeier: Der Hammerschlag ist dieses Jahr digital
Derweil erscheint David Grossmann auf der Eröffnungsveranstaltung mit einer Video-Botschaft aus einem Vorort von Jerusalem. Ihm sei das Wort „Hoffnung“ als Motto vorgegeben worden. Doch was solle man dazu sagen, wenn man in einem Land mit den höchsten Ansteckungsraten lebt, beschreibt er seine Not. Er habe so lange auf dem Wort gekaut, auch auf hebräisch - „Tikwa“ - bis er ihm doch etwas abgewinnen kann: Es eröffne Perspektive.
Grossmann fürchtet eine Verrohung der Gesellschaft am Ende der Corona-Krise: Religiöser Fanatismus, Homophobie, Rassismus. Von Autoren werde erwartet, Beobachter zu sein. Schreiben sei eine Form des Widerstands, sagt er.
In The Hof, wobei alle das „o“ kurz sprechen, wie eine Kurzform von Hoffnung, sind immer noch über 80 Teilnehmer dabei. Man merkt, die Neugier auf Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern ist groß. Als sie sich verabschieden, lautet der Tenor „a great experience“. Ja, die Organisation war perfekt.
„Ihnen allen eine erfolgreiche Buchmesse 2020“, sagt dann Frankfurts Oberbürgermeister auf der Eröffnungsfeier. Und der Satz steht mit einer einsamen Ungewissheit im Raum, und es schwingt die neugierige Frage mit, worin denn der Erfolg bestehen wird? Genauso ungewiss und neugierig zugleich, wie man sich mit fremden fünf Leuten auf dem Bildschirm fühlt.
Dann soll der traditionelle Hammerschlag zur Eröffnung folgen. Dafür wäre Grütters zuständig gewesen. Doch in diesem Jahr gibt es keinen Holzhammer, sondern nur einen digitalen Schlag. Grütters und Schmidt-Friderichs stehen etwas unentschlossen auf der Bühne, dann ein Countdown auf den Bildschirmen dahinter, ein sich steigernder Ton und schließlich ein digitaler Klatsch. Die Buchmesse ist eröffnet.
LD